Urlaubszeit ist Lesezeit. Diesmal war Kroatien mein Reiseziel, daher packte ich kroatische bzw. ex-jugoslawische Literatur in den Koffer.

Der Griff zu Ivan Ivanji erwies sich als Glückstreffer: Ich bin von den ersten Seiten an in „Das Kinderfräulein“ reingekippt und habe es in kürzester Zeit verschlungen.

„Schuld“ daran ist die Lebensgeschichte der „Heldin“, der verarmten Adeligen Ilse von Bockberg aus Kärnten. Finanzielle Not verschlägt sie in den Dreißiger Jahren in eine kleine Stadt im Banat (liegt heute in Rumänien, Serbien und Ungarn), wo sie herzlich aufgenommen und Kinderfräulein für den kleinen Viktor wird.

Die folgenden Jahre werden die glücklichsten in ihrem Leben.
Immer mehr dringt aber der Nationalsozialismus in ihren Alltag und jenen der reichen jüdischen Fabrikantenfamilie Keleti ein und gipfelt in der Machtübernahme durch die Nazis.

Die Fragen des Lebens

Anhand des Lebensverlaufes der Ilse von Bockberg stellt der 1929 geborene Ivanji die großen Fragen nach Schuld und Unschuld, nach Erinnern und Vergessen.

Eine junge, schüchterne Frau, mitgezogen vom Lauf der Geschichte – ist sie naiv oder dumm? Eine typische Mitläuferin, wie es damals viele gegeben hat? Ist sie geblendet von der anfänglichen Euphorie? Wie viele Entscheidungen konnte und durfte Ilse als junge Frau bislang überhaupt eigenständig treffen?

Ist sie tatsächlich nur so blind aus schwärmerischer Verliebtheit? Geschmeichelt durch die Avancen ihres völkisch orientierten deutschen Liebhabers Jaksch, der ein SS-Mann der ersten Stunde ist? Gerade diese Beziehung ermöglicht ihr den Kontakt zum örtlichen Gestapo-Chef, so dass sie zumindest Viktor und seine Mutter Goldy die Flucht nach Ungarn ermöglichen kann. (Direktor Keleti kann sie nicht retten: Er wird festgenommen und gehängt.)

Als „Gegengeschäft“ wird sie die Sekretärin des Gestapo-Chefs Kant und erklärt sich solidarisch mit den Nazis. Sie wird Teil des verbrecherischen Systems.

Jeder trägt Verantwortung für sein Tun.

Ein klein bisschen stolz ist Ilse anfangs auf ihr „Volk, Reich und Führer“. Gleichzeitig verspürt sie Angst und Abscheu. Irgendwann begreift sie, welche Akten da tagtäglich über ihren Schreibtisch gehen und was das für die Menschen in ihrer Stadt bedeutet: Festnahme, Lager, Folter, Tod.

„Sie sind nichts Besseres, wenn Sie nur in der Schreibstube herumgesessen sind, sie sind genau so schuldig wie ich oder Jaksch. Es gibt keine unschuldigen Menschen auf dieser Welt. Für sie gilt dasselbe wie für uns alle. Sollte es eines Tages doch so weit kommen, gilt auch für Sie: mitgefangen, mitgehangen!“

Gestapo-Chef Kant zu Ilse (Seite 114)

Doch was kann eine junge Frau, die nie Eigenverantwortung übernommen hat, in so einer Situation tun? Ivanji beschreibt Ilses Ohnmacht und wie sie sie mithilfe von Kokain zu betäuben versucht.

(Vielleicht hat auch Victors Mutter Goldy eine solche Ohnmacht in ihrer Ehe verspürt und deshalb ebenso Kokain genommen. Jahre später wird Victor Ilse danach fragen und sie bleibt ihm auch auf diese Frage eine Antwort schuldig.)

Das ist nicht anständig.

Das sind die Worte des Kindes Viktor, als er und seine Mutter Hals über Kopf die Heimat verlassen müssen. Eine Fahrt ins Ungewisse und der Junge spürt – wohl mit seinem kindlichen Instinkt, dass sein Kinderfräulein hier einen faulen Kompromiss eingeht. Und ihn nicht nur über das Schicksal seines Vaters im Unklaren, sondern ihn in Stich lässt.

Zum Abschied schenkt Viktor seinem Kinderfräulein keinen Blick mehr. Von Ungarn werden er und seine schöne junge Mutter nach Auschwitz gebracht, wo Goldy ermordet wird.

„Das ist nicht anständig von dir, Ilse. Das ist nicht anständig. Du hast uns verraten.“

Viktor (Seite 75)

Ilse verfolgen diese Worte ihr Leben lang und sie versucht sich genauso lang dafür zu rechtfertigen.

Schuld und Sühne

Nach Kriegsende übernimmt Ilse die Verantwortung für ihr Tun. Aber auch diesmal nicht aktiv, sondern passiv, weil ihr jegliche Entscheidungskraft fehlt: Sie flieht nicht rechtzeitig mit den abziehenden Deutschen.

Dank ihrer früheren Kontakte zur einheimischen serbischen und ungarischen Bevölkerung kommt sie nicht als Kriegsverbrecherin vor Gericht, sondern wird mit anonymen Deutschen in ein Lager abgeschoben und verbringt dort einige Jahre.

 

Erinnern und vergessen

Fast fünfzig Jahre später führt das Schicksal Ilse und Viktor wieder in Wien zusammen. Aus dem Kind wurde ein angesehener Architekt. Ilse führte ein eintöniges, einsames Leben und ist eine alte Frau. An ihrem Lebensabend versuchen die beiden ihre Vergangenheit aufzuarbeiten.

Aber kann man das eigene Leid gegen das Leid des anderen aufrechnen? Wer kann vergeben, was nicht zu vergeben ist?

Am Ende, als sich der Kreis schließt und sowohl Victor als auch schlussendlich Ilse ihren Frieden finden, habe ich geweint.

 

Quergelesen

Die Handlung

Eine genaue Inhaltsangabe findet sich hier…

Ich habe durch den historischen Kontext und die Lokalisierung im ehemaligen Banat einiges über Zeitgeschichte und die serbisch-ungarisch-rumänisch-deutsche Region erfahren.

Der Autor

Ich vermute, dass die Geschichte ein klein wenig biografisch angehaucht ist, da Ivan Ivanji einerseits die Handlung in seiner Geburtsstadt Großbetschkerek (heutige Zrenjanin) spielen lässt und anderseits auch er aus einer bürgerlichen Familie stammt.

Die Sprache

Der Stil ist angenehm und leicht verständlich. Die Sätze haben eine durchschnittliche Länge. Durch die Sprache Ivanjis entstehen viele Bilder im Kopf. Das Buch ist somit leicht zu lesen.

Lesegefühl

Kurzweilig! Ich bin sofort in die Handlung und in die Geschichte reingekippt. Das Buch regt zum Nachdenken an. Mich hat es sehr berührt.

Fazit: Klare Leseempfehlung!

(c) 1998 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien, Alle Rechte vorbehalten. Graphische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien. Umschlagabbildung: Oelze, Richard: Erwartung (1935-36), Museum of Modern Art New York, Druck und Verarbeitung: Remaprint, Wien. ISBN 3-85452-421-8

 

Haben Sie schon dieses oder ein anderes Buch von Ivan Ivanji gelesen? Wie hat es Ihnen gefallen?

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